Hinführung
In einer Ära, in der Sprachassistenten unseren Alltag erobern und Technologie immer menschlicher wird, wirft das wissenschaftliches Paper, mit dem Titel „Information Disclosure in the Era of Voice Technologie“ einen überraschenden Blick auf die verborgenen Ebenen unserer Interaktionen.
Welche Schlüsselfaktoren unsere Bereitschaft zur Offenlegung unserer Daten beeinflussen und wie sich dies von der ursprünglich manuellen hin zur mündlichen Kommunikation geändert hat, wurde hier literarisch untersucht.
Verbale Offenlegung
Innerhalb der Technologiekommunikation spielt die verbale Offenlegung eine entscheidende Rolle. Hierbei geht es darum, wie Menschen Informationen über sich selbst bewusst preisgeben, sei es über die gesprochenen Worte oder geschriebenen Sätze. Dieser Prozess ist von vielfältigen Faktoren beeinflusst, die bewusst oder unbewusst Einfluss auf Entscheidungen zum Teilen persönlicher Informationen nehmen. Drei zentrale Einflussgrößen stehen dabei im Mittelpunkt: Die Cold Route, die Hot Route und die Selbstkontrolle.
Cold Route
Bei der Cold Route wägt man selbst die Risiken und Vorteile ab, welche das Offenlegen von Informationen mit sich bringen. Bei den Risiken handelt es sich um den möglichen Schaden für den Nutzer. Die schwere des Schadens hängt dabei von der Sensitivität der Daten ab. Zum Beispiel sind finanzielle Daten deutlich sensibler als der Familienstand. Des Weiteren hängt die Wahrscheinlichkeit für Schaden auch von der Identifizierbarkeit und der Privatsphäre ab. Die wahrgenommenen Vorteile sind die Erfüllung von sozialen Zielen.
Identifizierbarkeit
Die mündliche Kommunikation sollte im Vergleich zu der manuellen die wahrgenommen Identifizierbarkeit erhöhen (These 1), da die Stimme etwas Einzigartiges ist und daher stark mit der Identität verknüpft ist. Aus diesem Grund sollte eine erhöhte wahrgenommene Identifizierbarkeit das wahrgenommene Risiko der Offenlegung erhöhen und damit die Neigung zur verbalen Offenlegung verringern (These 2). Dies geht auch aus einer früheren Forschung hervor, in der College-Studenten befragt wurden, ob diese schummeln. Die Studenten konnten anhand des Namens und der Sozialversicherungsnummer identifiziert werden. Dabei ist herausgekommen, dass die Studenten weniger dazu bereit sind, zuzugeben, dass sie schummeln.
Privatsphäre
Die Privatsphäre entspricht der Wahrnehmung, inwieweit Dritte auf die preisgegebenen Inhalte zugreifen können. In diesem Punkt sollte die mündliche Kommunikation im Vergleich zu der manuellen die wahrgenommene Privatsphäre erhöhen (These 3). Mündliche Inhalte sind flüchtiger und existieren meist nur für die Dauer der Äußerung. Allerdings wird hier ein falsches Bild vermittelt, da die Technik bereits so fortgeschritten ist, dass Gespräche aufgezeichnet und gespeichert werden können und somit auch noch im Nachhinein auf die Daten zugegriffen werden kann. Daraus kann geschlossen werden, dass eine erhöhte wahrgenommene Privatsphäre das wahrgenommene Risiko der Offenlegung verringert und infolgedessen die Neigung zur verbalen Offenlegung erhöht (These 4). Eine frühere Forschung unterstützt diese These: Verbraucher teilen eher freizügige Fotos, wenn die Informationen nur begrenzt verfügbar ist, wie zum Beispiel bei Snapchat, wo Bilder nur wenige Sekunden angezeigt werden können.
Soziale Ziele
Jeder Mensch hat das Streben nach sozialen Zielen, daher sollte die mündliche im Vergleich zur manuellen Kommunikation die soziale Präsenz erhöhen (These 5). Dies kommt daher, dass das Hören der Stimme eines Gesprächspartners einen Hinweis auf die soziale Präsenz einer anderen Entität gibt. Diese Entität kann sowohl ein anderer Mensch sein als auch eine KI. Für die verbale Offenlegung führt eine größere soziale Präsenz zu einer höheren Bedeutsamkeit sozialer Ziele und beeinflusst dadurch auch die wahrgenommen Offenlegungsvorteile (These 6). Allerdings hängen diese auch von der Vertrautheit mit der benutzten Technologie zusammen. Eine höhere Vertrautheit erhöht die Offenlegungsvorteile und damit auch die Neigung zur Offenlegung. Dies findet genau andersherum statt, wenn eine niedrige Vertrautheit herrscht.
Hot Route
Die Hot Route wird durch automatische Reaktionen geprägt. Diese werden durch Emotionen hervorgerufen und können sowohl positiv als auch negativ behaftet sein. Positive Emotionen resultieren zum Beispiel durch Freude, Stolz oder Aufregung und erhöhen die Neigung zur Offenlegung. Scham, Peinlichkeit oder auch Schuld sind Beispiele für negative Emotionen und verringern die Neigung zur Offenlegung.
Emotionale Verstärkung
Eine neurowissenschaftliche Forschung hat herausgefunden, dass bei der mündlichen Kommunikation die vordere Hirnregion aktiviert wird, welche in die affektive Verarbeitung involviert ist. Dadurch sollte die mündliche Kommunikation die emotionale Erfahrung der Verbraucher verstärken (These 7). Des Weiteren wird der mündliche Ausdruck schon früh im Leben in natürlichen und affektiv reichen Umgebungen erworben, während das Schreiben erst später in regelbasierten Umgebungen erlernt wird. Für die verbale Offenlegung bedeutet dies, dass die emotionale Verstärkung die Neigung zur Offenlegung von Informationen verringert, wenn negative Emotionen hervorgerufen werden, erhöht aber die Offenlegung bei positiven Emotionen (These 8). Ein Versuch in einer klinischen Psychologie spiegelt dies wider. Weniger Menschen neigen dazu negative emotionale Erfahrungen in einer mündlichen Therapie offenzulegen als in schriftlichen Essays.
Self Control
Bei der Self Control handelt es sich um die Verbindung der beiden vorherigen Entscheidungswege. Man wendet sie an, wenn beide zu einem widersprüchlichen Ergebnis kommen. Dabei ist es ein zweistufiger Prozess, bei dem zunächst der Konflikt festgestellt werden muss und das Ergebnis der Cold Route dem der Hot Route tendenziell überlegen sein muss. Ein Beispiel: Ein Besuch bei Arzt, bei dem man eine Zurückhaltung spürt, über peinliche Gesundheitsinformationen zu sprechen, man jedoch den Nutzen einer genaueren Diagnose daraus ziehen kann.
Konflikterkennung
Die These 9 des Papiers postuliert, dass mündliche Kommunikation im Vergleich zur manuellen die Fähigkeit zur Konflikterkennung verringert. Neurologische Forschung zeigen, dass eine geringere Aktivierung des für Konflikterkennung verantwortlichen Gehirnbereichs im mündlichen Ausdruck vorliegt. Diese Reduzierung der Konflikterkennung beeinflusst die Selbstkontrolle und erhöht die Neigung zu impulsiven, affektgetriebenen Reaktionen (These 10) und damit weniger Offenlegung bei negativ emotionalen Inhalten.
Verarbeitungskapazität
Die These 11 des Papiers argumentiert, dass mündliche Kommunikation im Vergleich zur manuellen die Verarbeitungsressourcen verringert. Das Hören von Informationen im Vergleich zum Sehen beansprucht die Verarbeitungsressourcen stärker. Mündliche Kommunikation mit Technologie erhöht die kognitive Belastung, da dynamische und flüchtige Informationen aufmerksam verfolgt werden müssen. Diese Verringerung der Verarbeitungsressourcen in der mündlichen Kommunikation sollte, laut These 12, die Abhängigkeit von impulsiven, emotionsgetriebenen Reaktionen erhöhen. Dies könnte die Wahrscheinlichkeit verringern, dass trotz überwiegendem Nutzen negative emotionale Inhalte offengelegt werden (Thesen 12a und 12b).
Nonverbale Offenlegung
Gegensätzlich zur verbalen spricht man von nonverbaler Offenlegung, wenn Nutzer unbewusst Informationen preisgibt. Dies sind zum Beispiel Umgebungsgeräusche oder Parasprache. Darunter versteht man Stimmmerkmale, Sprachmerkmale oder auch nichtsprachliche Geräusche.
In der manuellen Kommunikation waren nonverbale Aspekte bisher nicht relevant, da sich so etwas mehr auf die Sprache und die Umgebung bezieht. Vor dem Hintergrund, dass manuelle Kommunikation vom Ort, der Person und kontextuell entkoppelt werden kann, gibt es keine Forschungen, die man auf die mündliche Kommunikation übertragen könnte.
Maßnahmen für Politik und Markt
Für alle der bisher genannten Mechanismen können auf dem Markt oder in der Politik Maßnahmen getroffen werden, um Verbraucher besser zu schützen oder auch die Neigung zur Offenlegung zu erhöhen.
Damit Verbraucher eine geringere Identifizierbarkeit wahrnehmen, können Techniken implementiert werden, welche die Spracheingaben von identifizierbaren Merkmalen verfremdet. So bleibt der Inhalt unverändert, aber die Anonymität der Verbraucher gewährleistet.
Um die Privatsphäre besser zu schützen können strengere Maßnahmen ergriffen werden, womit Verbraucher über eine Aufzeichnung von Gesprächen informiert werden. Dies kann beispielsweise ein rot blinkendes Licht sein oder ein Pop-Up, welches zuerst bestätigt werden muss.
Marken können Stimmidentitäten einsetzen, um eine soziale Präsenz zu schaffen. Eine vertraute Stimme zielt nämlich auf eine Beziehung ab und auf eine gewisse Vertrautheit, so dass die Verbraucher eher dazu neigen etwas über sich preiszugeben. Beispiele für sehr bekannte Stimmidentitäten sind Alexa oder auch Siri.
Gerade, wenn es um negative Emotionen geht, werden die Menschen beim Preisgeben von Informationen zögerlich, daher sollten Umfragen, welche solche Emotionen hervorrufen könnten, wie zum Beispiel zu Sucht, Kriminalität oder auch peinlichen Produktkategorien, manuell durchgeführt werden.
Damit Verbraucher auch bei der mündlichen Kommunikation mehr Kontrolle über den Inhalt haben, kann eine Funktion zum Bearbeiten oder Löschen des Inhalts implementiert werden.
Bei der nonverbalen Kommunikation werden die Maßnahmen in Marketing und Datenschutz gegliedert. Im Bereich Marketing sollte die nonverbale Offenlegung mit der verbalen Kombiniert werden, um ein besseres Targeting zu ermöglichen und zielgerichtete Angebote anzeigen zu können. Außerdem ermöglicht die nonverbale Offenlegung auch die genaue Differenzierung von Verbrauchern innerhalb eines Haushalts, da neben der IP-Adresse des Gerätes auch die Stimme des Nutzers erkannt wird.
Im Bereich Datenschutz sollte eine rechtliche Unterscheidung zwischen verbaler und nonverbaler Offenlegung gemacht werden, da nur die verbale Offenlegung bewusst stattfindet. Zudem sollte die Stimme in den USA und Deutschland mehr Schutz bekommen und somit den Verbraucher mehr schützen. Aktuell wird in den USA die Stimme nur zum Teil als biometrischer Identifikator anerkannt und dementsprechend nicht vollständig geschützt. In Deutschland wird die Stimme nur dann geschützt, wenn der Inhalt sensibel ist und Daten über die Rasse, ethnische Herkunft oder auch Gesundheitszuständen enthält.
Ausblick für weitere Forschungen
Wie bereits gesagt, gibt es bisher keine Forschungen zur nonverbalen Offenlegung in der Kommunikation. Mit der Erschließung des mündlichen Weges, öffnen sich hier auch neue Türen, Forschungen durchzuführen. Hier wäre zum Beispiel eine Personenumfrage oder eine Sprachstudie angebracht.
Außerdem zieht das Paper überwiegend lückenhafte Forschungen heran, die die verschiedenen Kommunikationsmodalitäten, ob mündlich oder manuell, nicht berücksichtigen. Es fehlen Forschungen, die sich bewusst mit der mündlichen Kommunikation und der damit verbundenen Offenlegung beschäftigen.
Im Allgemeinen hat das Thema großes Forschungspotenzial und es bleibt abzuwarten, ob auf der Basis dieser Literaturrecherche bei praktischen Studien andere Ergebnisse zu erwarten sind.
Quelle
Melzner, J., Bonezzi, A., & Meyvis, T. (2023). Information Disclosure in the Era of Voice Technology. Journal of Marketing, 87(4), 491-509.