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Niedrigere Kaufraten durch zu frühes Cart Retargeting?

Mit dieser Frage beschäftigt sich die Studie “The Double-Edged Effects of E-Commerce Cart Retargeting: Does Retargeting Too Early Backfire?” von Li J., Luo X., Lu X., Moriguchi T. aus dem Jahr 2020. 

Oft verlassen Nutzer die Einkaufswagen-Seite eines Online-Shops ohne zu kaufen. Die Rate der Warenkorbabbrüche im E-Commerce liegt bei rund 69% und bedeutet einen Verlust von über 4.6 Billionen US-Dollar [1]. Dieses riesige Potenzial verleitet Unternehmen dazu, einen großen Teil des Marketing Budgets in E-Commerce Cart Retargeting (ECR) zu investieren.  

Beim ECR werden dem Nutzer Erinnerungs-Anzeigen ausgespielt, nachdem zuvor ein Warenkorbabbruch zustande kam. Diese Anzeigen können dabei über verschiedene Channels wie z.B. E-Mail ausgeliefert werden. “Amazon” ist nur eines von vielen Unternehmen, welches ECR nutzt, um den Umsatz zu steigern. 

Viele Unternehmen folgen hierbei der Annahme des “Recency Bumps”, nach der ECR besonders dann effektiv ist, wenn dieses möglichst unmittelbar nach dem Warenkorbabbruch ausgespielt wird [2]. Diese Annahme basiert auf früheren Untersuchungen, in denen frühes ERC zu einer höheren CTR und mehr Websitebesuchen geführt hatte, als spätes ECR.  

Diese Untersuchungen weisen jedoch häufig Schwächen auf, die Fehlschlüsse zulassen. Der Verzicht auf eine Kontrollgruppe beispielsweise eröffnet den Raum für andere Erklärungen bezüglich der besseren Performance von frühem ECR. So könnten Nutzer, die den Warenkorb erst vor kurzem befüllt haben, intrinsisch noch stärker motiviert sein, als Nutzer, die den Warenkorb schon vor längerer Zeit befüllten. Dies würde erklären, warum Kunden nach frühen ECR-Anzeigen eher kaufen. Dafür wäre jedoch weniger die Anzeige selbst sondern vielmehr die eigene Entscheidung des Kunden verantwortlich.  

Im schlechtesten Fall könnte zu frühes ECR die Nutzer nerven sowie penetrant oder aufdringlich wirken und so zu einer verringerten Kaufrate führen.  

Die Studie, die wir im Rahmen dieses Beitrags erläutern, besteht aus zwei Experimenten mit verschiedenen Online-Shops und untersucht, welche Auswirkungen frühes ECR und spätes ECR auf die Kaufrate haben. Zusätzlich wird in dem zweiten Experiment geprüft, ob bestimmte Warenkorbeigenschaften die Auswirkungen zusätzlich verstärken können. 

Frühere Literatur  

Hypothesen  

Es wird folgendes angenommen:  

1. Die Kaufrate sinkt in der Kontrollgruppe (ohne ECR) mit der Zeit, da die Erinnerung an den Warenkorb verblasst.  

2. ECR kann durch “Reminder Ads” diese Erinnerung wieder auffrischen.  

3. Aufgrund von zwei wirkenden Kräften “Ad Annoyance” und “Ad Reminder” haben frühe Reminder Ads einen negativen und späte Reminder Ads einen positiven Effekt auf die Kaufrate.  

Daraus ergeben sich zwei Hypothesen:  

H1: Relativ zu der randomisierten frühen Kontrollgruppe, haben frühe ECR-Anzeigen einen negativen Effekt auf die Kaufrate.  

H2: Relativ zu der randomisierten späten Kontrollgruppe, haben späte ECR-Anzeigen einen positiven Effekt auf die Kaufrate. 

Experiment 1  

Das erste Experiment wurde im Rahmen eines japanischen Online Fashion Retailers durchgeführt. Die Hauptzielgruppe des Unternehmens besteht aus Männern und Frauen im Alter von 20 bis 45 Jahren. Das Experiment wurde dabei zwei Mal durchgeführt. Bei der ersten Durchführung wurden 33.234 ECR-Nachrichten per E-Mail versendet und bei der zweiten Durchführung 7.314 ECR-Nachrichten per Messenger Dienst.  

Die Nutzer wurden zunächst in 16 Gruppen eingeteilt: Acht Stundenblöcke (0.5h, 1h, 3h, 6h, 9h, 12h, 24h, 72h) und zwei Retargeting Fälle für jeden dieser Stundenblöcke (Retargeting oder Kontrollgruppe ohne Retargeting).  

Die Retargeting-Nachricht erhielten lediglich Kunden, die nur ein Produkt in den Warenkorb gelegt hatten. Dabei enthielten die Nachrichten allgemeine Produktinformationen (z.B. Marke, Preis).  

Bei der Zuteilung in die Gruppen wurde überprüft, ob ein Nutzer einen Warenkorbabbruch verursacht hat und ob er tatsächlich noch nicht gekauft hat. Sollte ein noch nicht zugewiesener Nutzer z.B. 3h nach dem Warenkorbabbruch zurückgekehrt sein und gekauft haben, so konnte er keiner Gruppe mehr zugeordnet werden. Entsprechend hatten alle Nutzer, die z.B. der 24h Gruppe zugeordnet wurden, innerhalb der 24h nach dem Warenkorbabbruch den Kauf noch nicht abgeschlossen. Dies galt für sämtliche Stundenblöcke.  

Gemessen wurde, ob es innerhalb eines Monats nach Erhalten der Retargeting-Nachricht zu einem Kauf kommt oder nicht.  

Modellfreies Ergebnis  

Wie in den Ergebnissen gesehen werden kann, nimmt die Kaufrate bei den Kontrollgruppen mit zunehmender Stundenzahl ab. Dies unterstützt die Annahme, dass die Erinnerung an den Warenkorb mit der Zeit verblasst. 

Auch sieht man, dass ohne die Kontrollgruppe schnell fehlinterpretiert werden kann. Sieht man sich nur die Retargeting-Gruppen an, scheint es so als würde das ECR mit der Zeit ineffektiver werden.  

Vergleicht man nun die Retargeting-Gruppe mit der Kontrollgruppe jeweils aus dem gleichen Stundenblock, so werden die tatsächlichen kausalen Effekte der ECR-Nachrichten deutlich.  

Es wird klar, dass ECR-Nachrichten bei 0.5h und 1h nach Warenkorbabbruch im Vergleich zu den Kontrollgruppen einen signifikanten negativen Effekt auf die Kaufrate haben. Dieses Ergebnis stützt H1. 

Die 3h, 6h und 9h Retargeting-Gruppen verzeichnen keinen signifikanten Effekt im Vergleich zu den jeweiligen Kontrollgruppen. Vermutlich findet hier ein “Trade-off” statt zwischen negativer Ad Annoyance und positivem Ad Reminder Effekt.  

Späte ECR-Nachrichten bei 24h und 72h haben einen signifikanten positiven Effekt auf die Kaufrate im Vergleich zu den Kontrollgruppen. Dieses Ergebnis unterstützt H2.  

Modellbasiertes Ergebnis  

Der modellbasierte Test durch moderierte logistische Regression bestätigt die Ergebnisse. Dabei agieren die Stundenblöcke als Moderatoren.  

Experiment 2  

Das zweite Experiment wurde in Partnerschaft mit einem chinesischen Online Händler für Baby-Produkte durchgeführt. Die Zielgruppe des Unternehmens besteht hauptsächlich aus jungen Eltern mit Kindern unter vier Jahren. Hierbei wurden die ECR-Nachrichten über SMS ausgeliefert. Anders als bei dem ersten Experiment dürfen hier auch mehrere Produkte im Warenkorb zurückgelassen werden. Im Laufe des Experiments erhielten 23.914 Kunden eine ECR-Nachricht. Zusätzlich werden auch Warenkorbdaten gesammelt (Produktanzahl, Produktpreise).  

Ziele des Experiments:  

1. Ergebnisse aus erstem Experiment replizieren.  

2. Untersuchen, welchen Einfluss Warenkorbeigenschaften (Produktanzahl, Durchschnittspreise) auf die Wirkung von ECR-Nachrichten haben. 

Die Nutzer wurden nach Warenkorbabbruch in 8 Gruppen eingeteilt: Vier Stundenblöcke (1h, 3h, 9h, 24h) und zwei Retargeting Fälle für jeden dieser Stundenblöcke (Retargeting oder Kontrollgruppe ohne Retargeting).  

Anders als bei Experiment 1 wurde bei der Gruppenzuteilung das Intent-to-treat-Verfahren angewendet. Das heißt, die Nutzer wurden ex ante zufällig einem der Stundenblöcke (Retargeting oder Kontrollgruppe) zugeteilt.  

Gemessen wurde, ob es innerhalb einer Woche nach Erhalten der Retargeting-Nachricht zu einem Kauf kommt oder nicht. 

Modellfreies Ergebnis  

In den Ergebnissen wird deutlich, dass die ECR Nachrichten in der 1h Gruppe einen signifikanten negativen Effekt auf die Kaufrate haben. Dieses Ergebnis stützt H1. Die mittleren Retargeting-Gruppen (3h und 9h) haben keinen signifikanten negativen Effekt im Vergleich zu den Kontrollgruppen. Dies spricht erneut für das Vorherrschen eines “Tradeoffs” zwischen negativer Ad Annoyance und positiven Ad Reminder Effekt. Die späten ECR Nachrichten bei 24h haben einen signifikanten positiven Effekt auf die Kaufrate im Vergleich zu der Kontrollgruppe. Dieses Ergebnis unterstützt H2.  

Modellbasiertes Ergebnis (Replizierung der Ergebnisse aus erstem Experiment)  

Der modellbasierte Test durch moderierte logistische Regression bestätigt die Ergebnisse. Dabei agieren erneut die Stundenblöcke als Moderatoren.  

Modellbasiertes Ergebnis (Untersuchung der moderierenden Wirkung von Warenkorbeigenschaften auf Effekte von ECR)  

Nutzer haben i.d.R verschiedene Gründe für einen Warenkorbabbruch (z.B. hohe Preise, kleines Budget) und daher vermutlich auch verschiedene Reaktionen auf ECR. Plausibel wäre z.B. die Annahme, dass frühes ECR bei Warenkörben mit vielen und teuren Produkten zu mehr Ad Annoyance führt, weil sich Kunden dazu gedrängt fühlen, teure und viele Produkte zu kaufen, damit das Unternehmen möglichst viel Umsatz macht [3].  

Daher soll nun überprüft werden, ob Warenkorbeigenschaften (Produktanzahl, Durchschnittspreise) die zweiseitigen Effekte von ECR beeinflussen.  

Untersuchung erfolgt erneut auf Basis moderierter logistischer Regression.  

Ergebnisse bieten Evidenz, dass Warenkorbeigenschaften die Effekte von ECR beeinflussen.  

Größere Artikelmengen im Warenkorb und höhere Durchschnittspreise verstärken die negative Wirkung von frühem ECR.  

Größere Artikelmengen im Warenkorb verstärken die positive Wirkung von spätem ECR. Für höhere Durchschnittspreise im Zusammenhang mit spätem ECR konnte in dieser Untersuchung leider kein signifikantes Ergebnis erzielt werden. Dennoch war der Koeffizient auch hier positiv.  

Diskussion  

Die vorgestellte Studie zeigt, dass ECR zweiseitige Effekte auf das Kaufverhalten hat. Während frühes ECR das Kaufverhalten negativ beeinflusst, hat spätes ECR eine positive Wirkung. Dabei werden die zweiseitigen Effekte zusätzlich verstärkt, wenn die Produktanzahl und die Durchschnittspreise des Warenkorbs höher sind.  

Forschungsimplikationen  

Die hier betrachtete Studie verdeutlicht, dass bei Vergleich ohne Kontrollgruppen der Fehlschluss gezogen werden kann, dass frühes ECR effektiver sei als spätes. Außerdem könnte die Studie die Sicht auf zukünftiges Retargeting verändern. Derzeit wird angestrebt, den Zeitabstand zwischen Verlassen einer Seite und Retargeting in Richtung null zu minimieren. Das dies nicht immer sinnvoll ist, wurde durch die erläuterte Untersuchung gezeigt. Zusätzlich offenbart die Studie neue Erkenntnisse bezüglich der moderierten Effekte von ECR durch Warenkorbeigenschaften. Außerdem hat man sich, als eine der ersten Studien, ausschließlich auf das Timing des ECRs fokussiert.  

Limitationen und zukünftige Forschung  

Im Rahmen dieser Studie wurden lediglich zwei Unternehmen aus zwei verschiedenen Ländern betrachtet. Somit könnten die Erkenntnisse u.U. nicht vollständig auf andere Kulturen oder Produkte übertragen werden. Daneben könnten zukünftige Forschungen untersuchen wie noch späteres ECR (Wochen/Monate nach Warenkorbabbruch) wirkt. Ebenfalls interessant zu analysieren wäre, wie sich Kunden-Präferenzen, demografische Daten oder Browsing-Content der Nutzer auf die Reaktionen bezüglich ECR auswirken. 

Quellen

[1] https://baymard.com/ lists/cart-abandonment-rate, accessed September 29, 2020  [2] Prioleau, Frost (2013), “The Recency Bump: In Retargeting Timing Is Everything,” Search Engine Land (March 14), https://searchengine land.com/the-recency-bump-in-retargeting-timing-is- everything151099  [3] Goldstein, Daniel G., Siddharth Suri, R. Preston McAfee, Matthew Ekstrand-Abueg, and Fernando Diaz (2014), “The Economic and Cognitive Costs of Bothersome Display Advertisements,” Journal of Marketing Research, 51 (6), 742–52. 
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