Digitale Barrierefreiheit im E-Commerce und ihre Herausforderungen

Symbolbild zur Digitalen Barrierefreiheit

Mit dem Barrierefreiheitsstärkungsgesetz, kurz BFSG hat Deutschland die am 17. April 2019 beschlossene EU-Richtlinie 2019/882 in deutsches Recht überführt. Das Gesetz tritt am 28. Juni 2025 in Kraft und hat das Ziel, die technischen Anforderungen an die Barrierefreiheit bestimmter Produkte und Dienstleistungen festzulegen, um so durch klare und EU-weit einheitliche Standards den Binnenmarkt zu stärken und preisgünstigere und besser verfügbare barrierefreie Produkte und Dienstleistungen ermöglichen zu können. (Bundesministerium für Arbeit und Soziales, 2024)

Allerdings ist die EU mit dem Thema global gesehen ein Nachzügler. Bereits 1990 haben die USA mit dem „Americans with Disabilities Act” (ADA) eine Gesetzesgrundlage geschaffen, um eine Gleichbehandlung von Menschen mit Behinderungen gesamtgesellschaftlich zu erreichen. Eine Frage, die sich dabei nun stellt, ist, inwieweit hat das ADA in den USA zur Barrierefreiheit im E-Commerce beitragen und welche Maßnahmen sind überhaupt notwendig, um eine Webseite barrierefrei zu gestalten?


Möglichkeit zur Messung der Barrierefreiheit

Damit die Frage geklärt werden kann, bietet sich ein Vergleich zwischen deutschen und amerikanischen Onlineshops an.

Die Basis des Vergleichs bieten dabei die Web Content Accessibility Guidelines (WCAG) 2.1. Sie wurden vom World Wide Web Consortium, kurz W3C, herausgegeben und dienen sowohl im deutschen BFSG wie auch im amerikanischen ADA als eine Basis für barrierefreies Webdesign.

Dabei legen die Web Content Accessibility Guidelines (WCAG) 2.1 die vier Grundsätze Wahrnehmbarkeit, Bedienbarkeit, Verständlichkeit und Robustheit als Grundlage für ein barrierefreies Internet fest. Unter den vier Grundsätzen sind dreizehn Leitlinien definiert. Es sind allgemein gehaltene Ziele, welche nicht testbar sind. Sie geben grundlegende Ziele vor, nach welchen Entwickler ihre Webseite auslegen können, um Inhalte für Nutzer mit verschiedenen Behinderungen besser zugänglich zu machen. 

Basierend auf den dreizehn Leitlinien sind testbare Erfolgskriterien festgelegt. Diese Erfolgskriterien sind in drei Konformitätsstufen A (niedrigste), AA und AAA (höchste) eingeteilt. Dabei setzen die Konformitätsstufen unterschiedliche Anforderungen an die Barrierefreiheit voraus: 

  • A: niedrigste Stufe, höchste Priorität 
  • AA: Standard, der zur Konformität mit dem BFSG zu erreichen ist.
  • AAA: höchste Stufe, niedrigste Priorität

(Bundesministerium des Innern und für Heimat, 2024b)

Auf diese testbaren Erfolgskriterien lässt sich der Inhalt einer Webseite mithilfe des Browser-Plugins des Bewertungstools WAVE “web accessibility evaluation tool” von WebAIM überprüfen. Es liefert dabei eine detaillierte Aufschlüsselung, wo auf einer Webseite Fehler vorliegen und wo gegen welche Richtlinien des WCAGs verstoßen wird. (webaim, 2024)


Versuchsaufbau

Aus den Sparten “Consumer Electronics”, “Groceries”, “Clothing” und “Home and Garden” wurden jeweils in beiden Ländern ein Webshop anhand ihrer Umsatzstärke ausgewählt, um die größten und meistgenutzten Webshops der Kategorien vergleichen zu können. In diesen Webshops wurden, wenn möglich, Produkte ausgewählt, die sowohl auf deutscher als auch auf US-amerikanischer Seite vorhanden waren. Wenn keine gleichen Produkte angeboten wurden, wurden ähnliche Produkte gewählt, um eine möglichst gute Vergleichbarkeit zu gewährleisten.

Zu jedem dieser Produkte wurde ein durchschnittlicher Einkaufsablauf nachgestellt und die dazugehörigen Seiten (Startseite des Shops, die Seite mit den Suchergebnissen zu einem Oberbegriff für das Zielprodukt, die Produktseite des Zielproduktes, der Warenkorb mit dem Zielprodukt darin sowie die erste Seite des Check-out- bzw. Bezahlprozesses) mithilfe des Plug-ins WAVE nach Verstößen des WCAG 2.1 untersucht.

Das Ergebnis aus der Untersuchung ist zum einen der Ist-Zustand deutscher Onlineshops, welcher genutzt wird, um Herausforderungen für deutsche Onlineshops herauszuarbeiten, wie auch ein Vergleich zwischen deutschen und amerikanischen Onlineshops, um festzustellen, inwiefern Gesetzesgrundlagen dazu beitragen, Onlineshops barrierefreier zu gestalten.


Untersuchungsergebnisse

Die Auswertung der gesammelten Daten zeigt, dass es in beiden Ländern noch großen Nachholbedarf gibt. Über alle betrachteten Webseiten wurden alle Grundlagen der Barrierefreiheit verletzt.

Die Grafik zeigt die Verteilung aller Fehler, welche auf den insgesamt 120 Einzelseiten der jeweils vier deutschen und vier US-amerikanischen Onlineshops bei der Untersuchung im Rahmen des Vergleiches erhoben wurden. Dabei kam es auf den Seiten deutscher Onlineshops in Summe zu 3.678 und auf den Seiten der US-amerikanischen Pendants zu 1.096 Fehlern.

Die Art der Fehler blieb jedoch in beiden Ländern trotz der Mengenunterschiede größtenteils identisch, wodurch sich die Fehler in vier Problemfelder einteilen lassen.


Was kommt auf den deutschen E-Commerce zu?

Um digitale Barrierefreiheit in Online-Shops in der Form, wie sie vom neuen Barrierefreiheitsstärkungsgesetz gefordert wird, umzusetzen, sollten sowohl technische, gestalterische als auch inhaltliche Aspekte berücksichtigt werden.  

Ein Hauptpunkt, der aus der Betrachtung der Fehler hervorgeht, ist die fehlende Pflege von Tags und Labels in den einzelnen HTML-Elementen. Ihre Hauptaufgabe ist es, die dargestellten Webseiten-Elemente mit zusätzlichen Informationen anzureichern, welche häufig von alternativen Darstellungsmöglichkeiten, wie etwa Screenreadern genutzt werden und dabei dem Benutzer dabei helfen, die Inhalte besser zu verstehen als auch die Orientierung auf der Webseite zu verbessern. Ihre Pflege ist jedoch sehr aufwendig, da sie manuell für jedes Element vorgenommen werden muss. 

Ein weiterer Punkt ist, dass alle betrachteten Webseiten auf dem veralteten HTML4-Standard basieren. Würde man diese nun auf den Stand des aktuellen HTML5 bringen, so ließen sich von vornherein viele Strukturfehler durch den neuen Ansatz des semantischen HTML vermeiden. Eine neue Implementierung birgt zudem die Chance, auch andere notwendige Anpassungen wie Kontrastfehler sowie Tag und Label Pflege nachzuholen. Allerdings bindet ein solches Projekt nicht nur erhebliche zeitliche, sondern auch finanzielle Ressourcen.


Fazit und Ausblick

Ob eine Einhaltung der von BFSGs geforderten Kriterien bis zum Inkrafttreten des Gesetzes realistisch umsetzbar ist, ist höchst fragwürdig. Durch die stichprobenartige Untersuchung geht hervor, dass deutsche Onlineshops eine mangelhafte Barrierefreiheit aufweisen. Bereits jetzt kommt Kritik aus der Wirtschaft, die sich über einen zu hohen Zeit- und Ressourcenbedarf beklagt. (Kolf & Scheppe, 2024) 

Zieht man den Vergleich zwischen den USA und Deutschland hinzu, so sieht man, dass auf den amerikanischen Webseiten zwar deutlich weniger Fehler auftreten, allerdings wird daraus auch ersichtlich, dass auch ein bereits vor 30 Jahren eingeführtes Gesetz nicht vollumfänglich dafür garantiert, dass alle Anforderungen an die Barrierefreiheit erfüllt werden.  Die Wahrscheinlichkeit ist hoch, dass Ähnliches in Deutschland passieren wird. Selbst in den USA, wo Strafen bei Gesetzesverstößen meist deutlich höher liegen als in Deutschland, mangelt es an Barrierefreiheit und Nachbesserungen erfolgen häufig erst nach Klagen. Deutsche Onlineshops werden es schwer haben, in der noch verbleibenden Zeit die Barrierefreiheit auf ihren Webseiten zu gewährleisten. Ob es mit dem Inkrafttreten des Gesetzes zu Klagen kommt, wodurch die Anbieter wirklich gezwungen werden zu handeln, bleibt abzuwarten.

Aller Widrigkeiten und aufgezeigten Problemen zum Trotz sollte das Ziel eines freien Internets, welches für alle Menschen unabhängig ihrer physischen und psychischen Einschränkungen zugänglich ist, weiter verfolgt werden. Nicht nur, weil es die gesellschaftliche Nachhaltigkeit fördert, sondern auch weil die Maßnahmen dabei helfen, einer ihren Einschränkungen bedingten leisen Minderheit mehr Gehör zu verschaffen.


Quellen

Bundesministerium des Innern und für Heimat. (2024). Web Content Accessibility Guidelines 2.1 (WCAG 2.1). Portal Barrierefreiheit der Dienstekonsolidierung des Bundes. https://www.barrierefreiheit-dienstekonsolidierung.bund.de/Webs/PB/DE/gesetze-und-richtlinien/wcag/wcag-node.html

Bundesministerium für Arbeit und Soziales. (2024). BMAS – Barrierefreiheitsstärkungsgesetz. Webseite des Bundesministerium für Arbeit und Soziales. https://www.bmas.de/DE/Service/Gesetze-und-Gesetzesvorhaben/barrierefreiheitsstaerkungsgesetz.html

Kolf, F., & Scheppe, M. (2024, Juli 22). Barrierefreiheit: Tausenden Unternehmen droht Abschaltung ihrer Websites. https://www.handelsblatt.com/unternehmen/handel-konsumgueter/barrierefreiheit-tausenden-unternehmen-droht-abschaltung-ihrer-websites/100049887.html

webaim. (2024). WAVE Web Accessibility Evaluation Tools. https://wave.webaim.org/

https://www.freepik.com/author/stories

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